Feuer im Reichstag: Marinus van der Lubbe war es nicht allein - WELT (2024)

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Am 10. Januar 1934 fällt der Kopf von Marinus van der Lubbe. Der junge Holländer, der einer kommunistischen Splittergruppe angehörte, wurde als einziger von fünf Angeklagten für die Brandstiftung im Reichstag vom Reichsgericht zum Tode verurteilt. Die vier anderen werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Es sind Ernst Torgler, Fraktionsvorsitzender der KPD im Reichstag, sowie die drei Bulgaren Georgi Dimitroff, Blagoj Popoff und Vasil Taneff, die als Funktionäre der Kommunistischen Internationale in Berlin ebenfalls verhaftet wurden. Im Gefängnis von Leipzig wird Marinus van der Lubbe geköpft. Drei Tage vor seinem 25. Geburtstag. Der Rest ist Geschichte? Keineswegs. Denn die Frage, ob van der Lubbe der alleinige Brandstifter war oder nationalsozialistische Täter den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 entzündeten, ist bis heute umstritten.

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Der Historiker Jürgen Schmädeke und seine Kollegen Alexander Bahar und Wilfried Kugel schreiben in einem Beitrag für die renommierte "Historische Zeitschrift" ("HZ"), "daß für drei wesentliche Stützen der Alleintäterschafts-Behauptung Quellentexte gezielt manipuliert wurden." Und folgern: "Fatal aber wäre es, wenn sich als ?herrschende Lehre' eine erst nach 1945 konstruierte, die Manipulationen der Ermittlungen und des Prozesses von 1933 vertuschende und damit zugleich die Nationalsozialisten entlastende Version der Alleintäterschaft van der Lubbes in den Geschichts- und Schulbüchern festsetzen würde, deren Fragwürdigkeiten bei ernsthafter Prüfung außer Zweifel stehen sollte. Die Lösung des Rätsels offenzuhalten, ist also das allermindeste, was verlangt werden muß, um die ungehinderte Fortsetzung sauberer, quellenorientierter Forschung zu ermöglichen."

Die Autoren präsentieren als Ergebnis ihrer Untersuchungen drei Schlussfolgerungen:

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"Van der Lubbes als stets widerspruchsfrei beschriebene Aussagen zur Brandlegung waren den zahlreichen Protokollen zufolge äußerst widersprüchlich, und die untersuchenden Kriminalisten suchten einseitig nach kommunistischen Tätern."

"Die als einander widersprechend dargestellten Gutachten der Brandsachverständigen stimmen darin überein, daß der Plenarsaal-Großbrand nicht ohne zusätzliche Brandstifter und Brandmittel, darunter möglicherweise eine selbstentzündliche Phosphorlösung, entstehen konnte."

"Die Behauptung, eine Benutzung des unterirdischen Ganges sei für Brandstifter unmöglich gewesen, beruht auf einer völlig falschen Darstellung der örtlichen Gegebenheiten."

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Scharf greift das Historikerteam damit den in Hannover lebenden Autor Fritz Tobias an. Er hatte seit 1959 die Alleintäterthese vehement vertreten. Tobias berufe sich dabei weithin auf die Protokolle der ersten polizeilichen Vernehmungen in der Brandnacht und den folgenden Tagen, den "Abschlußbericht" vom 3. März und ergänzende Aussagen der beiden Kriminalkommissare Zirpins und Heisig. Schmädeke stellt hierzu im Gespräch mit der WELT fest: "Als Angehörige der Hermann Göring (Reichstagspräsident und damals zugleich kommissarischer Innenminister Preußens) unterstehenden Politischen Polizei - seit April 1933 Geheime Staatspolizei - haben sie sofort die Untersuchungen an sich gezogen. Heisig wurde Leiter der Gestapo-Brandkommission im Reichstag. Auch der erste Gestapo-Chef Rudolf Diels ist einer der Kronzeugen für Tobias, dessen Ergebnisse dann 1964 Hans Mommsen, damals Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, ?auf die Stufe . . . ernsthafter Forschung' stellte." Das war der Ausgangspunkt einer seit über 35 Jahren immer wieder aufflammenden Kontroverse, die nun durch eingehende Quellenkritik in ein neues Licht gerückt wird."

Zu der These von den stets widerspruchsfreien Aussagen des "Alleintäters" van der Lubbe schreibt das Historikerteam:

"Die nun vorliegenden Ermittlungs- und Vernehmungsakten aus dem Jahr 1933 zeigen, daß van der Lubbe sich schon bei den Vernehmungen über seinen angenommenen Weg ins Reichstagsgebäude in zahlreiche Widersprüche verwickelte, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob er überhaupt auf dem geschilderten Wege ins Gebäude gelangt ist."

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Dem Protokoll der Vernehmung Lubbes am 28. Februar zufolge wollte van der Lubbe "an einem etwa mannshohen Gesims hochgeklettert und auf einen kleinen Balkon gestiegen" sein. Dagegen liest man im Protokoll der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter Vogt am 5. Mai, Lubbe sei "den tiefen Einschnitt entlanggegangen, der sich zwischen dem Kellergeschoß und der Auffahrt befindet", und dann am "Kellergeschoß, Erdgeschoß bis in das Hauptgeschoß hinaufgeklettert".

Auf Grund der Widersprüche in seinen Aussagen wurde van der Lubbe schließlich vor den Reichstag geführt, wo er wieder eine andere Version auftischte:" muß ich mich dahin berichtigen, daß ich doch über das auf dem Lichtbild erkennbare Geländer und zwar da an der Stelle, wo links in der Ecke ein Drahtgitter gespannt ist, von dem Geländer aus an dem Drahtgitter entlang auf den Mauervorsprung an den unteren vergitterten Fenstern gestiegen und dann unter Benutzung der Fugen der einzelnen Quader an dem Erdgeschoß zum Hauptgeschoß aufgestiegen bin. Ich habe vorher geglaubt, dass man zwischen dem Eisengeländer und dem Kellergeschoß entlanggehen könne."

Damit sei, fünf Wochen nach der Tat, nach zahlreichen Vernehmungen endlich eine halbwegs plausible Erklärung konstruiert worden. Wer jedoch den Tatort und die Witterungsbedingungen - Dunkelheit, Schnee und Frost, ein Zaun aus mehreren Reihen Stacheldraht und eine rund 4,50 Meter hohe Wand mit vorstehender Brüstung -betrachte, müsse sich fragen, ob dies wirklich die Wahrheit sein könne, argumentiert das Schmädeke-Team. Außerdem finden sich in den Untersuchungsakten weitere Merkwürdigkeiten: Beamte der Spurensicherung untersuchten erst am 1. März den angeblichen Kletterweg van der Lubbes an der Außenwand und fanden Fingerabdrücke, die sich angeblich "nicht für eine daktyloskopische Behandlung" eigneten. Reste von Kohlenanzündern und abgebrannten Streichhölzern fanden sie dabei zusammengekehrt auf dem Balkon. "Ausgerechnet die Einstiegsstelle wurde also weder rechtzeitig noch genau untersucht." Fingerabdrücke fand man entlang der Brandspuren im Erdgeschoss am Rahmen der zerschlagenen Scheibe einer verschlossenen Tür und an einem zum Scheibeneinschlagen benutzten Teller.

Im Bericht des Erkennungsdienstes vom 2. März heißt es darüber: "Die gesicherten Spuren wurden nunmehr mit den Fingerabdrücken des festgenommenen van der Lübbe (sic!) eingehend verglichen, ohne dass eine Identität festgestellt werden konnte."

Dann führen die Autoren des "HZ"-Aufsatzes "zwei gravierende Beispiele" dafür an, wie Tobias, um seine These vom alleinigen Brandstifter Marinus van der Lubbe zu untermauern, Dokumente manipuliert habe.

Aus dem "Abschlußbericht" Zirpins' zitiere Tobias dessen Antwort auf "die entscheidende Frage" wie folgt: "Die Frage, ob van der Lübbe (sic!) die Tat allein ausgeführt hat, dürfte bedenkenlos zu bejahen sein." Tobias lasse hier unerwähnt, dass sich dies - wie aus dem im Anhang seines Buches auszugsweise abgedruckten Wortlaut hervorgeht - zunächst allein auf Brände im Neuköllner Wohlfahrtsamt, Roten Rathaus und Stadtschloss zwei Tage vor dem Reichstagsbrand bezieht, die van der Lubbe laut Vernehmungsprotokoll als sein Werk bezeichnet hatte, während zum eigentlichen Reichstagsbrand nur hinzugefügt wird: "Hier sowie im Reichstag hat der Täter Kohlenanzünder verwendet." Darauf folgt im "Abschlußbericht" der für die Entstehung des Großbrandes wirklich entscheidende Satz: "Die Frage, ob auf die geschilderte Art und Weise besonders der umfangreiche Brand im Plenarsaal so schnell entstehen konnte, dürfte durch Sachverständige zu prüfen sein. Tobias' ?entscheidender' Beweis für die Alleintäterschaft erweist sich somit als unvollständiges Zitat und Herstellung falscher Bezüge", stellen die Autoren in der "HZ" fest.

Außerdem fanden sie bei Tobias "ein zweites krasses Beispiel einer Textmanipulation". Hier zitiert Tobias aus dem Protokoll der Reichsgerichtsverhandlung vom 27. September 1933 eine von Torglers Verteidiger Sack an Zirpins gerichtete Frage, die der Leser in dem von Tobias dargestellten Kontext allein auf den Reichstagsbrand beziehen könne:

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"Darf ich Sie dann bitten, Herr Zeuge, dem hohen Senat gegenüber diese Ansicht zu begründen, die hier im Bericht vom 3. März niedergelegt ist, nach der also van der Lubbe zweifelsohne als Alleintäter in Frage kommen soll."

"Tobias läßt Zirpins diese - wie er betont - ?nicht unverfängliche Frage'" so beantworten:

"Die Tatausführung war in allen Brandstellen dieselbe. Marinus van der Lubbe hat, wie gesagt, das alles selbst zu Protokoll gegeben. Ich nehme an - es steht bei mir fest - daß er es selbst gemacht hat."

Dazu stellen die Autoren fest, "daß sich diese Aussage allein auf die Brände im Wohlfahrtsamt, Rathaus und Schloß bezieht". Zirpins behauptete also "lediglich, daß van der Lubbe diese drei Brände vor dem Reichstagsbrand alleine gelegt hatte. Für den Reichstagsbrand selbst blieb . . . die Suche nach Mittätern oder Hintermännern nicht nur legitim, sondern dringend geboten - und zwar nicht nur in eine Richtung". Zirpins dagegen verdächtigte im "Abschlußbericht" nur die Kommunisten: "Die Erhebungen in dieser Richtung werden mit Nachdruck geführt."

"In immer neue Schwierigkeiten stürzte van der Lubbe seine Vernehmer auch bei dem Versuch, anhand seiner Aussagen die vielen kleinen Brandlegungen außerhalb des Plenarsaales im Haupt- und Erdgeschoß in eine nachvollziehbare und von einer Einzelperson zu bewältigende Reihenfolge zu bringen", fahren die Autoren fort. "Am Schluß der Vernehmung vom 8. April hatte der Vernehmer Marowsky sich nur noch mit einem Vermerk zu helfen gewußt: ?v. d. Lubbe macht bei seiner vorstehenden Vernehmung einen durchaus unglaubwürdigen Eindruck. Er verwickelt sich des öfteren in Widersprüche, macht ganz präzise Angabe und stößt diese sofort wieder um, sobald sie im Protokoll niedergelegt sind.'" Ähnlich äußerte sich im Prozess der Untersuchungsrichter Vogt, und zuvor schon stellte der Gestapo-Kommissar Heisig - entgegen, so Schmädeke zur WELT, Tobias' Angaben - "verschiedene Widersprüche" fest und betonte, auf die Frage, ob van der Lubbe die Tat allein gemacht oder Mittäter gehabt habe, "gab er keine genügenden Auskünfte". Als Ermittler nach Holland entsandt, habe Heisig - gleichfalls entgegen Tobias' Behauptung - bei einer Pressekonferenz darauf beharrt, van der Lubbe müsse kommunistische Verbündete gehabt haben.

Das Schmädeke-Team kommt zu dem Schluss: "Angesichts all dieser Ungereimtheiten erweist sich der erste Hauptpfeiler des ,Beweises' für van der Lubbes Alleintäterschaft ohne Hintermänner und Mittäter als nicht tragfähig."

Dann wenden sich die Autoren dem zweiten "Hauptpfeiler" zu - den angeblich völlig widersprüchlichen Gutachten der Sachverständigen über die Brandlegung. "Nach deren übereinstimmender Meinung war ein einzelner ohne fremde Hilfe oder Vorbereitung durch zusätzliche Brandmittel nicht imstande, binnen 15 Minuten die zahlreichen, über zwei Stockwerke verteilten einzelnen Brandherde zu legen und zu entzünden - und am Ende noch den Plenarsaal in ein Flammenmeer zu verwandeln." Die Gutachter, schreiben die Autoren in der "HZ", "stimmten darin überein, daß der Plenarsaal vor der eigentlichen Feuerlegung mit flüssigen, aber nicht explosionsartig verbrennenden Mitteln präpariert worden sein mußte", und kamen zu dem Ergebnis, "daß van der Lubbe allenfalls die Zeit für eine Initialzündung des so präparierten Saales blieb - wenn er überhaupt an der Brandlegung im Plenarsaal beteiligt war". Die Gutachter schlossen übereinstimmend die Verwendung einer "selbstentzündlichen Flüssigkeit" nicht aus, die nach Tobias' Meinung der von ihm als "Provinzchemiker" verunglimpfte Sachverständige Schatz "erfand". Diese Flüssigkeit, so heißt es im "HZ"-Aufsatz, werde in Handbüchern detailliert als Lösung von Phosphor in Schwefelkohlenstoff, Chloroform oder Äther beschrieben und sie sei schon vor 1933 von der SA eingesetzt worden. Bevor im Prozess von diesem Brandmittel die Rede war - und nicht, so Schmädeke, wie Tobias behaupte, erst danach -, bot der SA-Mann Adolf Rall aus dem Gefängnis dazu eine Aussage an. Er wurde jedoch zur Gestapo gebracht und dann bei einem "Fluchtversuch" erschossen. Zuvor schon war der ?Hellseher' Hanussen ermordet worden, der enge Kontakte zur SA hatte und am Abend vor dem Reichstagsbrand in einer Séance ein "großes Haus" brennen sah.

Die Historiker greifen dann den dritten Stützpfeiler der Alleintäterschafts-Behauptung an: "daß nämlich Brandstifter nicht den unterirdischen Gang benutzen konnten, durch den die Heizungsrohre vom Kesselhaus, unter dem Reichstagspräsidentenpalais hindurch, in den Keller des Reichstags führten." Hier habe Tobias einen vom Nachtpförtner kontrollierten "Stichtunnel" erfunden, den angeblich niemand ungesehen passieren konnte, und, so Schmädeke zur WELT, "offenkundig die vielfältigen Zugangsmöglichkeiten nicht gekannt." - "Was Tobias nicht erwähnt, ist auch, daß Adermann (der langjährige Nachtpförtner) bereits einige Zeit vor dem Brand, mehrmals des Nachts verdächtige Bewegungen im Gang beobachtet hatte."

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Die Autoren stellen zum Schluss die brisante Frage, welcher Zweck nach dem Ende des NS-Regimes mit der Aufstellung der Alleintäterschafts-These verfolgt worden sei. Ihre Antwort: Die Manipulation der Ermittlungen von 1933 durch die Politische Polizei und Gestapo sollte verschleiert werden. "Erstmals publiziert wurde die Behauptung 1949 - also in dem Jahr, in dem die Bundesrepublik Deutschland entstand und damit auch die Jurisdiktion über NS-Verbrechen in deutsche Hände überging. Autoren dieser neuen Version waren der erste Gestapo-Chef Rudolf Diels, den sein ehemaliger Untergebener und spätere NS-Gegner Gisevius schon 1947 der Mitwisserschaft und Beteiligung an Morden beschuldigt hatte, und Diels' Mitarbeiter Heinrich Schnitzler." Schmädeke sagt dazu der WELT: "Schnitzler brachte es später zum Ministerialrat im Düsseldorfer Innenministerium. Diels lebte nach ?erfolgreicher' Entnazifizierung auf seinem Bauernhof bei Hannover als Regierungspräsident zur Wiederverwendung. Als Dritter im Bunde ist dann 1953 jener Kriminalkommissar Zirpins aufgetreten, der 1933 die ersten Ermittlungen führte. Er war 1941/42 Leiter der Kriminalpolizei im Getto von Litzmannstadt (Lodz), bei Kriegsende Kripochef von Hamburg und wurde nach Internierung und Entnazifizierung 1951 Kripochef in Hannover - in unmittelbarer Nähe von Tobias, der dort inzwischen im Innenministerium dazu beitragen sollte, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen." ei

Die Kontroverse um den Reichstagsbrand im Internet:

http://www.zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/brand

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